THEMENZEIT


Berichte aus den Veranstaltungen


 

 

THEMENZEIT im Frauenzentrum Wetterau e.V.

 

Genderfragen in Coronazeiten

 

Innerhalb der neuen Veranstaltungsreihe THEMENZEIT des Frauenzentrums Wetterau e.V. wurde kürzlich das Thema: „Genderfragen in Coronazeiten“ besprochen. Nach einigen theoretischen Inputs gab es viel Raum für Diskussion und Austausch über persönliche Erfahrungen. Inhaltliche Schwerpunkte waren dabei die Auswirkungen der Corona-Krise für Frauen sowie die geschlechterbezogene Datenlücke (Gender Data Gap).

 

Für erstere Thematik orientierten sich die Frauen an dem Policy Brief des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung. Dieser belegt, dass durch das Wegbrechen der Kinderbetreuung in Schule, Hort und KiTa vor allem Frauen die zusätzlich anfallende Sorgearbeit leisten. Weiterhin kommt dieser auch zu dem Schluss, dass Frauen häufiger von Arbeitszeitreduktion betroffen sind und gleichzeitig seltener eine Aufstockung der Kurzarbeit erhalten. Frauen stehen somit mehrfach unter Druck. Alle Faktoren zusammen führen dazu, dass eine ungleiche Verteilung der Erwerbsarbeit in Paarbeziehungen und somit die Abhängigkeit von Frauen zusätzlich begünstigt wird. So verändern sich im Moment Erwerbsverläufe von Frauen nachhaltig zu ihrem Nachteil. Dies wird langfristige Folgen haben – über die Corona-Krise hinaus.

 

Die Lohnungleichheiten zwischen Männern und Frauen sorgen u.a. ohnehin schon dafür, dass das Modell von Hauptverdiener*in (meist männlich) und Zuverdiener*in (meist weiblich) gefördert wird. An dieser Stelle wurde auch in der Diskussion deutlich, dass bereits zuvor bestehende Geschlechterungleichheiten durch die Corona-Krise nur verstärkt werden und mehr zu Tage treten.

 

Ungläubig nahmen daher auch die Anwesenden den Fakt auf, dass Frauen in Deutschland immer noch durchschnittlich 21% weniger als Männer verdienen. Dieser Wert, der auch Gender Pay Gap genannt wird, ist in Deutschland seit 2002 konstant. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland damit auf dem vorletzten Platz. Dazu kommt, dass Frauen vor Corona bereits täglich über 50% mehr Sorgearbeit geleistet haben als Männer. Auch befinden sich Frauen häufiger in prekären Beschäftigungsverhältnissen (Niedriglohnsektor und Teilzeitarbeit), wie beispielsweise in systemrelevanten Berufen im Pflegesektor. Sie haben daher auch ein erheblich höheres Risiko in Altersarmut zu geraten. Dies gilt vor allem für alleinstehende und alleinerziehende Frauen, da das Rentensystem immer noch auf das Hauptverdiener Modell ausgelegt ist. Sorgearbeit wird finanziell nicht ausreichend anerkennt und unterbrochene Erwerbsbiografien führen zur Benachteiligung.

 

Im Meinungsaustausch wurde klar, dass diese Missachtungen, unabhängig von der Corona-Krise, viele Frauen persönlich betreffen. Dass Frauen diejenigen sind, die zum einen die Konsequenzen der Corona-Krise (er-)tragen und zum anderen mehrheitlich diejenigen sind, die in systemrelevanten Berufen jeden Tag ihr Leben riskieren, dürfe nicht verwundern und vor allem die Frauen nicht sprachlos machen.

 

Die Corona-Krise könnte dazu führen, dass die Gleichberechtigung der Geschlechter um drei Jahrzehnte zurückgeworfen wird, befürchtet die Soziologin Prof. Dr. Jutta Allmendinger. Um das zu verhindern bedürfe es energischer, sozialpolitischer Maßnahmen. Deshalb sei die Öffnungen von Schulen und KiTas nicht nur wichtig für die Kinder, sondern genauso für Mütter, im Besonderen für Alleinerziehende. Daher fordert das WSI im Policy Brief außerdem eine stärkere Lohnkompensation für Eltern, die unteren Lohngruppen angehören.

 

Langfristig braucht es jedoch grundlegende politische Eingriffe, so die einhellige Meinung der Anwesenden, um eine tatsächliche Gleichstellung der Geschlechter zu erreichen. Beispielsweise eine finanzielle Anerkennung von Sorgearbeit bei gleichzeitigem umfassendem Ausbau der Betreuungsmöglichkeiten und Reformen von Renten- und Steuersystem. Dies ist ein langer Weg. Aber die Corona-Krise zeigt auf, welche Schritte nötig sind. Wie essenziell Sorgearbeit im Privaten wie Professionellen ist, war noch nie so klar wie jetzt.

 

An dieser Stelle konnte ein Zusammenhang zum zweiten thematischen Schwerpunkt des Abends hergestellt werden. Denn, wie bereits erwähnt, sind es weltweit mehrheitlich Frauen, die in medizinischen, systemrelevanten Berufen arbeiten und dem Virus somit stärker ausgesetzt sind. Dennoch sterben Frauen weniger häufig an COVID-19. Warum das der Fall ist, weiß man deshalb nicht, weil das weibliche Immunsystem nicht ausreichend erforscht ist. Es fehlt an wissenschaftlichen Daten.

 

Dieses Fehlen von „weiblichen“ Daten wird als Gender Data Gap bezeichnet. Das 2019 erschienene Buch „Unsichtbare Frauen – Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert“ von Caroline Criado-Perez verschaffte dieser Problematik mehr mediale Präsenz. In einem Interview mit dem Onlinemagazin ze.tt des Zeitverlags beschreibt die Autorin das Phänomen so: „[Die Gender Data Gap] zeigt, dass die überwiegende Mehrheit an gesammelten wissenschaftlichen Daten von Männern stammt. […] Das liegt daran, dass Männer die unausgesprochene Selbstverständlichkeit sind. Sie bilden sozusagen den ‚Durchschnittsmenschen‘ und ihre Erfahrungen und Erlebnisse gelten als geschlechtsneutral“.

 

Für die Auswirkungen der Datenlücke gibt es verschiedene Beispiele. Aus weiblicher Perspektive hat jedoch die Medikamentenforschung eine besondere Relevanz. So zeigt eine Studie, dass 80% der Versuchstiere männlich sind. Außerdem werden Frauen als Testpersonen in klinischen Studien ausgeschlossen, weil sie „Hormonschwankungen“ unterliegen. Vera Regitz-Zagrosek, Mitbegründerin der Gendermedizin und Kardiologin, kritisiert im Gespräch mit dem Wissenschaftsmagazin Spektrum, dass dies reine Bequemlichkeit sei. Würde man eine ausreichend große Zahl an Probandinnen wählen, glichen sich die zyklusbedingten Unterschiede aus. Eine Konsequenz der unzureichenden geschlechtsspezifischen Testung ist, dass Arzneimittelnebenwirkungen bei Frauen 1,5-mal häufiger auftreten als bei Männern. Dies führt Regitz-Zagrosek im Ärzteblatt an. Daher sei es unabdingbar: „geschlechtsdifferenzierte Arzneimittelunverträg-lichkeiten, Wechsel- und Nebenwirkungen systematisch [zu erfassen]“.

Der Abend im Frauenzentrum hat demnach offenbart, wie vielschichtig sich die Geschlechterungleichheiten äußern und, dass die Corona-Krise diese Ungleichheiten zusätzlich verstärkt. Dabei ist das Thema Unsichtbarkeit immer wieder zentral. Die Sichtbarkeit von Frauen, ihren Themen und Bedürfnissen zu erhöhen, ist somit ein Schritt auf dem Weg in Richtung Gleichberechtigung. Daher bietet das Frauenzentrum einen Raum für Frauen sich und ihre Themen zu artikulieren und darüber gemeinschaftliches Handeln zu ermöglichen und Veränderung zu bewirken.